Säure-Base-Reaktionen aus einem (etwas) erweitertem Blickwinkel
Säure-Base-Reaktionen sind der Schlüssel zum Verständnis des pH-Werts und der Wasserchemie überhaupt. So gehören die 1- und 2-protonigen Säuren zum Standardrepertoire der Hydrochemie-Ausbildung und Lehrbücher.
Das UIT-Reviewpaper betrachtet den allgemeinen Fall N-protoniger Säuren, wobei N jede positive Ganzzahl sein kann. (Mehrprotonige Säuren sind oft die Regel in der organischen und Bio-Chemie: EDTA, Fulvin- und Huminsäuren, Aminosäuren, Nukleinsäuren usw. )
Das nichtlineare Säure-Base-Gleichungssystem wird analytisch gelöst, was zu einer einfachen Formel führt, die man zum Berechnen von Titrationskurven und Pufferkapazitäten einsetzten kann (für beliebig großes N und ohne numerischer Solver heranziehen zu müssen). Dies wird anhand mehrerer Beispiele demonstriert, angefangen von der Kohlensäure, Phosphorsäure, Aminosäuren und EDTA bis hin zur Oberflächenkomplexierung an Tonmineralen.
Nebenbei: Aus dem Blickwinkel eines variablen und beliebig großen N erschließt sich unmittelbar eine Klassifizierung der 2N+1 Äquivalenzpunkte.
Der Vorteil analytischer Formeln (im Gegensatz zu numerischen Daten/Lösungen) ist, dass man nun mathematische Funktionen in der Hand hat, die man (beliebig oft) differenzieren, integrieren, invertieren und superponieren kann. Das wird ausgenutzt und führt zu überraschenden Erkenntnissen:
- Aus Sicht der statistischen Mechanik (kanonisch isotherm-isobares Ensemble) sind Pufferkapazitäten, Pufferintensitäten und höhere pH-Ableitungen nichts anderes als Fluktuationen in Form von Varianz, Skewness und Kurtosis.
- Faktorisiert man die Zustandssumme, dann lässt sich jede N-protonige Säure exakt als Mischung/Superposition von N „1-protonigen Säuren“ darstellen.
Mit dem letzten Punkt schaffen wir eine Brücke zur theoretischen Physik, wo man wechselwirkende Teilchen/Systeme mittels nicht-wechselwirkender "Quasiteilchen" beschreibt (Phononen, Magnetonen, Excitonen). Interessant ist auch die Ähnlichkeit der Speziesverteilung 1-protoniger Säuren mit der Fermi-Dirac-Verteilung und der sigmoidalen logistischen Funktion.
Zurück zur Praxis. Die oberen Betrachtungen erweitern zwar unser Verständnis über Säure-Base-Systeme (und deren Gleichgewichts-Thermodynamik), doch zur Modellierung „realer Systeme“ nutzen wir in der UIT vorrangig numerische Modelle (PhreeqC, aquaC). Dazu der Abschlusssatz aus dem 55-seitigem Reviewpaper:
"Final Remark. The mathematical framework is based on three assumptions: (i) activities are replaced by concentrations, (ii) no aqueous complex formation, and (iii) no density effects (molality = molarity). These are the limits of the analytical model. Although the current approach deepens our understanding of the acid-base system, it can never replace numerical models such as PhreeqC, which are capable of handling real-world problems more accurately (including activity corrections, an arbitrary number of species and phases, and complex formation)."
letzte Änderung: 14.11.2018